Ausgangspunkt für die Beurteilung der Frage einer fiktiven Zugehörigkeit zum System der zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben auf der Grundlage des am 1.08.1991 geltenden Bundesrechts am Stichtag 30.06.1990 sind die „Regelungen“ für die Versorgungssysteme, die gemäß Anl II Kap VIII Sachgebiet H Abschn III Nr 9 des Einigungsvertrages1 mit dem Beitritt am 3.10.1990 zu – sekundärem – Bundesrecht geworden sind. Dies sind insbesondere die Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben (VO-AVItech)2 und die 2. Durchführungsbestimmung zur Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben (2. DB)3, soweit sie nicht gegen vorrangiges originäres Bundesrecht oder höherrangiges Recht verstoßen.
Nach § 1 VO-AVItech und der dazu ergangenen 2. DB hängt das Bestehen einer fingierten Versorgungsanwartschaft von folgenden drei Voraussetzungen ab4, die kumulativ am Stichtag 30.06.1990 vorliegen müssen,
- von der Berechtigung, eine bestimmte Berufsbezeichnung zu führen (persönliche Voraussetzung),
- von der Ausübung einer entsprechenden Tätigkeit (sachliche Voraussetzung),
- und zwar in einem volkseigenen Produktionsbetrieb im Bereich der Industrie oder des Bauwesens (§ 1 Abs 1 der 2. DB))oder in einem durch § 1 Abs 2 der 2. DB gleichgestellten Betrieb (betriebliche Voraussetzung).
- Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31.08.1990, BGBl II 889[↩]
- vom 17.08.1950, GBl DDR 844[↩]
- vom 24.05.1951, GBl DDR 487[↩]
- vgl BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 2 S 14, Nr 5 S 33, Nr 6 S 40 f, Nr 7 S 60; SozR 4-8570 § 1 Nr 9 S 48[↩]
- BSG, Urteile vom 23.08.2007 – B 4 RS 2/07 R; vom 31.03.2004 – B 4 RA 31/03 R; vom 09.10.2012 – B 5 RS 9/11 R; und vom 09.05.2012 – B 5 RS 7/11 R[↩]
- BSG, Urteile aaO[↩]
- BSG, Urteile vom 09.10.2012 – B 5 RS 9/11 R; und vom 09.05.2012 – B 5 RS 7/11 R; BSG Urteil vom 18.10.2007 – B 4 RS 17/07 R, SozR 4-8570 § 1 Nr 14 RdNr 44 mwN[↩]
- vgl etwa BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 6 S 46 f sowie SozR 4-8570 § 1 Nr 16 RdNr 21 und 23; Urteile vom 19.07.2011, BSGE 108, 300 = SozR 4-8570 § 1 Nr 18, RdNr 24; vom 28.09.2011 – B 5 RS 8/10 R; vom 09.05.2012 – B 5 RS 8/11 R; und vom 09.10.2012 – B 5 RS 5/12 R[↩]
- dazu und zum Folgenden: Senatsurteil vom 09.10.2012 – B 5 RS 5/12 R[↩]
- so schon Hinweis in BSG, Urteil vom 19.07.2011 – B 5 RS 7/10 R, BSGE 108, 300 = SozR 4-8570 § 1 Nr 18, RdNr 28[↩]
- BSG, Urteil vom 09.04.2002 – B 4 RA 41/01 R, SozR 3-8570 § 1 Nr 6 S 47 f[↩]
- BSG, Urteil vom 06.05.2004 – B 4 RA 52/03 R[↩]
- vgl BSG Beschluss vom 13.02.2008 – B 4 RS 133/07 B[↩]
- BSG, Urteil vom 09.10.2012 – B 5 RS 5/12 R[↩]
- LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 15.12.2011 – L 1 R 145/08[↩]
- 250 Mitarbeiter[↩]
- wie die Montage[↩]
- innerhalb des VEB oder außerhalb beim Kunden?[↩]
- vgl BSG Urteil vom 24.04.2008 – B 4 RS 31/07 R[↩]
- vgl BSG, Urteile vom 19.07.2011 – B 5 RS 7/10 R, BSGE 108, 300 = SozR 4-8570 § 1 Nr 18, RdNr 31; und vom 09.10.2012 – B 5 RS 5/11 R[↩]
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts5 erfüllen Ingenieure die sachliche Voraussetzung für eine Einbeziehung in das Zusatzversorgungssystem der technischen Intelligenz nur dann, wenn der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit entsprechend ihrem Berufsbild im produktionsbezogenen ingenieurtechnischen Bereich lag und damit die Aufgabenerfüllung geprägt hat. Lag der Schwerpunkt dagegen in anderen Bereichen, zB im wirtschaftlichen bzw kaufmännischen Bereich, waren die Ingenieure nicht schwerpunktmäßig, dh überwiegend, entsprechend ihrem Berufsbild, sondern vielmehr berufsfremd eingesetzt. Nach der ständigen Rechtsprechung bedeutet „berufsfremd“ die Ausübung einer Tätigkeit, die nicht schwerpunktmäßig durch die durchlaufene Ausbildung und die im Ausbildungsberuf typischerweise gewonnenen Erfahrungen geprägt ist6.
Für die Prüfung der sachlichen Voraussetzung ist demnach von der erworbenen Berufsbezeichnung iS der 2. DB auszugehen und zu ermitteln, welches Berufsbild dieser unter Berücksichtigung der Ausbildung und der im späteren Ausbildungsberuf typischerweise gewonnenen Erfahrungen zu Grunde liegt. Im Anschluss hieran ist festzustellen, welche Tätigkeit der Versicherte konkret ausgeübt hat und zu fragen, ob diese im Schwerpunkt dem der Berufsbezeichnung zu Grunde liegenden Berufsbild entspricht. Dies ist zu bejahen, wenn die ausgeübte Tätigkeit überwiegend durch die in der Ausbildung zu einem Beruf iS des § 1 Abs 1 der 2. DB gewonnenen Kenntnisse und Fertigkeiten und die im Ausbildungsberuf typischerweise gewonnenen Erfahrungen geprägt ist7.
Unter den Begriff des volkseigenen Produktionsbetriebs der Industrie oder des Bauwesens fallen nur Produktionsdurchführungsbetriebe, denen unmittelbar die industrielle Massenproduktion von Sachgütern das Gepräge gibt. Das Bundessozialgericht hält auch insoweit an seiner bisherigen Rechtsprechung fest8)).
Für das Vorliegen der betrieblichen Voraussetzung ist unerheblich, ob es am Stichtag 30.06.1990 noch VEB gegeben hat, die organisatorisch dem industriellen Produktionssektor der DDR-Planwirtschaft zugeordnet waren9. Ob die betriebliche Voraussetzung im Sinne der VO-AVItech iVm der 2. DB erfüllt ist, bestimmt sich nach der bisherigen oberstgerichtlichen Rechtsprechung allein danach, ob der Anspruchsteller am 30.06.1990 – abgesehen von den gleichgestellten Betrieben – in einem volkseigenen Produktionsbetrieb der Industrie oder des Bauwesens beschäftigt gewesen ist, dh einem VEB, dem die industrielle Fertigung das Gepräge gegeben hat. Hingegen ist nicht auch konstitutiv auf seine organisatorische Zuordnung abgestellt worden10. Bereits im Urteil vom 09.04.200211 hatte das Bundessozialgericht eine derartige Bedeutung allenfalls – ausdrücklich nicht tragend – nur als möglich in Erwägung gezogen. Schon in der Entscheidung vom 06.05.200412 wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass allein die fehlende Zuordnung zu einem Industrieministerium nicht genügt, einen Produktionsbetrieb der Industrie oder des Bauwesens abzulehnen. Dementsprechend zieht auch die spätere Rechtsprechung den Umstand der organisatorischen Zuordnung durchgehend als weder notwendiges noch hinreichendes Hilfskriterium allenfalls bestätigend heran13. Hat aber die Frage der organisatorischen Zuordnung keine konstitutive Bedeutung, ist unerheblich, ob es am Stichtag noch einen industriellen Produktionssektor der DDR-Planwirtschaft gegeben hat. Vielmehr ist allein die Rechtsform des Betriebs als VEB sowie seine tatsächliche Produktionsweise entscheidungsrelevant14.
Im vorliegenden Fall hatte Landessozialgericht Sachsen-Anhalt den Schwerpunkt der betrieblichen Tätigkeit nach der (Kopf-)Zahl der Mitarbeiter in den Tätigkeitsbereichen „Produktion“ und „Elektroinstallation“ bestimmt15. Damit hat es nach Ansicht des Bundessozialgerichts einen einheitlichen und grundsätzlich geeigneten Maßstab für die Beurteilung der Frage gewählt, ob der VEB E. sein Gepräge durch die industrielle Massenproduktion erhalten hat, wobei allerdings einschränkend zu bemerken ist, dass von der bloßen Kopfzahl der Beschäftigten nicht stets automatisch auf ein entsprechendes Arbeitsvolumen und einen entsprechenden Anteil an der Wertschöpfung geschlossen werden darf. Den Feststellungen des Landessozialgerichts lässt sich jedoch – was gleichzeitig unabdingbar erforderlich ist – insbesondere nicht entnehmen, womit konkret der Bereich „Elektroinstallation“16 befasst war, obwohl es unter anderem wegen der Frage, „ob auch die Installation17 den Produktionsbegriff erfüllen kann“, die Revision zugelassen hat. Es unterlegt dem Begriff der „Elektroinstallation“ ohne jeden Fallbezug bestenfalls aus sich heraus eine Bedeutung, wenn es ausführt: „Bei der Installation werden keine neuen Produkte seriell hergestellt, sondern es werden – ggf seriell hergestellte – Sachgüter verarbeitet, in dem zB Leuchten und Kabel angebracht bzw verlegt werden“. Stattdessen hätte das Berufungsgericht konkret ermitteln und feststellen müssen, welche Aufgaben beim VEB E. im Bereich der „Elektroinstallation“ genau anfielen, welche Komponenten wo18 verarbeitet („installiert“, „angebracht“, „verlegt“ oder eingebaut) wurden und ob es sich dabei um eher handwerklich geprägte Individualarbeiten oder industriell geprägte Serienfertigung (ggf unter entsprechendem Maschineneinsatz) handelte. Soweit im Rahmen der Elektroinstallation – ggf seriell hergestellte – Komponenten (wie zB Leuchten und Kabel) angebracht, verlegt oder miteinander verbunden wurden, wird das LSG die Fertigungsart ermitteln und feststellen müssen, ob diese Aggregate mehr oder weniger schematisch nach einem im vorhinein festgelegten Plan standardisiert (zB in Fertigungsstraßen) oder nach bestimmten Kundenwünschen individuell verarbeitet wurden. Unter diesen Voraussetzungen ist insbesondere auch eine größere Produktpalette oder eine Vielzahl potenziell zu verbindender Einzelteile kein Hindernis, solange das Produkt einer vom Hersteller standardmäßig angebotenen Palette entspricht. Werden dagegen Gebrauchtteile mit verbaut19 oder treten individuelle Kundenwünsche, wie der zusätzliche Einbau von besonders gefertigten Teilen oder der Bau eines zwar aus standardisierten Einzelteilen bestehenden, so aber vom Hersteller nicht vorgesehenen und allein auf besondere Anforderungen gefertigten Produkts, in den Vordergrund, entfällt der Bezug zur industriellen Massenproduktion20.
Bundessozialgericht, Urteil vom 20. März 2013 – B 5 RS 3/12 R