Erstattung vor über 4 Jahren zu Unrecht entrichteter Rentenversicherungsbeiträge

Die zum 1.01.2008 eingeführte Regelung, dass zu Unrecht entrichtete Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung vier Jahre nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie entrichtet worden sind, als zu Recht entrichtete Pflichtbeiträge gelten, schließt den Anspruch auf die Erstattung solcher Beiträge aus. Das betrifft auch vor dem Jahr 2008 liegende Zeiträume der Beitragsentrichtung.

Nach § 26 Abs 2 Halbs 1 SGB IV sind zu Unrecht entrichtete Beiträge zur gesetzlichen RV zu erstatten; eine Erstattung solcher Beiträge kommt nach § 26 Abs 2 Halbs 1 SGB IV nur dann in Betracht, wenn der Versicherungsträger bis zur Geltendmachung des Erstattungsanspruchs aufgrund dieser Beiträge oder für den Zeitraum, für den die Beiträge zu Unrecht entrichtet worden sind, keine Leistungen erbracht oder zu erbringen hat (sog Verfallklausel). Gemäß § 26 Abs 3 S 1 SGB IV steht der ein (entstandener) Erstattungsanspruch1 demjenigen zu, der die Beiträge getragen hat.

Nach § 26 Abs 1 S 3 iVm S 2 SGB IV gelten zu Unrecht entrichtete Beiträge nach Ablauf der in § 27 Abs 2 S 1 SGB IV bestimmten Frist als zu Recht entrichtete Pflichtbeiträge. Die in Bezug genommene Vorschrift des § 27 Abs 2 S 1 SGB IV regelt, dass der Erstattungsanspruch in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Beiträge entrichtet worden sind, verjährt.

§ 26 Abs 1 S 3 SGB IV wurde durch Art 1 Nr 14 des Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 19.12.20072 angefügt und ist gemäß Art 21 Abs 1 des vorgenannten Gesetzes am 1.01.2008 ohne Übergangsvorschriften in Kraft getreten.

Die Norm erfasst grundsätzlich auch (ursprünglich) zu Unrecht entrichtete Beiträge, die für Zeiträume entrichtet wurden, die vor dem Inkrafttreten der Norm, also vor dem 1.01.2008, liegen3.

Werden materielle Anspruchsvoraussetzungen eines sozialrechtlichen Leistungsgesetzes geändert, gilt grundsätzlich das Versicherungsfall- bzw Leistungsfallprinzip. Hiernach ist ein Rechtssatz nur auf solche Sachverhalte anwendbar, die nach seinem Inkrafttreten verwirklicht werden. Spätere Änderungen eines Rechtssatzes sind danach für die Beurteilung von vor seinem Inkrafttreten entstandenen Lebensverhältnissen unerheblich, es sei denn, dass das Gesetz seine zeitliche Geltung auf solche Verhältnisse erstreckt. Dementsprechend geht das BSG in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass sich die Entstehung und der Fortbestand sozialrechtlicher Ansprüche bzw Rechtsverhältnisse grundsätzlich nach dem Recht beurteilen, das zur Zeit des Vorliegens der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände gegolten hat. Das Versicherungsfall- bzw Leistungsfallprinzip ist allerdings nicht anzuwenden, soweit später in Kraft gesetztes Recht ausdrücklich oder sinngemäß etwas anderes bestimmt. Dann kommt der Grundsatz der sofortigen Anwendung des neuen Rechts auch auf nach altem Recht entstandene Rechte und Rechtsverhältnisse zum Tragen. Welcher der genannten Grundsätze des intertemporalen Rechts zur Anwendung gelangt, richtet sich letztlich danach, wie das einschlägige Recht ausgestaltet bzw auszulegen ist4.

Dem Wortlaut der Regelung in § 26 Abs 1 S 3 SGB IV kann ebenso wenig wie ihrer systematischen Stellung eine eindeutige Antwort auf die Frage ihrer Geltung für Beitragszeiträume bereits vor dem 1.01.2008 entnommen werden. Allerdings folgt eine Geltung der Vorschrift mit hinreichender Klarheit jedenfalls aus den Gesetzesmaterialien. Nach den – im weiteren Gesetzgebungsverfahren nicht in Zweifel gezogenen – Ausführungen der Gesetzesbegründung der Bundesregierung zu der genannten Bestimmung sollte nämlich gerade die bis dahin geltende Rechtslage geändert werden, wonach zu Unrecht entrichtete Beiträge zur gesetzlichen RV im Einzelfall „noch für viele Jahre rückwirkend“ erstattet werden mussten; derartig zu Unrecht entrichtete Beiträge sollten aufgrund der Neuregelung nach Ablauf der Verjährungsfrist von vier Jahren nach § 27 Abs 2 S 1 SGB IV vielmehr als zu Recht entrichtete Pflichtbeiträge gelten und die Beiträge als solche erhalten bleiben, eine Erstattung dagegen nicht mehr möglich sein5). Dieses vom Gesetzgeber formulierte Ziel ließ sich konsequenterweise nur durch eine unmittelbar und zeitnah greifende Rechtsänderung verwirklichen, indem von der Neuregelung auch schon in Zeiträumen vor dem Inkrafttreten der Norm entrichtete Beiträge erfasst wurden und nicht erst Beiträge, die nach dem 1.01.2008 entrichtet wurden und bei denen die neu angeordneten Rechtsfolgen dann wiederum erst nach weiteren vier Jahren greifen würden. Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber trotz des von ihm angenommenen Handlungsbedarfs eine erst Jahre später eintretende Wirkung der Rechtsänderung beabsichtigte, sind jedoch den Gesetzesmaterialien nicht zu entnehmen.

Die in § 26 Abs 1 S 3 iVm § 27 Abs 2 S 1 SGB IV genannte Frist ist im hier entschiedenen fall hinsichtlich der für den streitigen Zeitraum geleisteten Beiträge verstrichen, nachdem der Kläger erst im Juli 2008 einen Antrag auf Erstattung gestellt hat. Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung, was in Fällen eines vor dem 1.01.2008 gestellten Erstattungsantrags gilt6. Ebenso kann offenbleiben, ob die in § 26 Abs 1 S 3 SGB IV genannte Voraussetzung des Ablaufs der in § 27 Abs 2 S 1 SGB IV genannten Frist als bloße Definition des maßgebenden Zeitraums (vier Jahre) oder darüber hinaus als Erfordernis eines Ablaufs der „Verjährungsfrist“7 unter Berücksichtigung der Regelung insbesondere über die Hemmung der Verjährung in § 27 Abs 3 SGB IV (hierzu Waßer in jurisPK-SGB IV, aaO, § 26 RdNr 41.1) zu verstehen ist. Anhaltspunkte für eine Hemmung oder Unterbrechung der Frist des § 27 Abs 2 S 1 SGB IV sind vorliegend nicht ersichtlich. Insbesondere hat der Kläger einen schriftlichen Antrag auf Erstattung, der geeignet sein könnte, die Verjährung(sfrist) zu unterbrechen (vgl § 27 Abs 3 S 2 SGB IV), erst im Juli 2008 und damit erst nach Inkrafttreten von § 26 Abs 1 S 3 SGB IV gestellt. Seine (möglicherweise) bestehende Unkenntnis von den Beitragserstattungsansprüchen und der Möglichkeit, sie (rechtzeitig) geltend zu machen, wären für die Frage des Fristablaufs ohne Bedeutung8.

Ein anderes Ergebnis lässt sich auch nicht über eine Anwendung der Grundsätze über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch herleiten. Dieses von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ergänzend zu den gesetzlich geregelten Korrekturmöglichkeiten bei fehlerhaftem Verwaltungshandeln entwickelte Rechtsinstitut greift – im Sinne eines öffentlich-rechtlichen Nachteilsausgleichs – ein, wenn ein Sozialleistungsträger durch Verletzung einer ihm aus dem Sozialrechtsverhältnis obliegenden Pflicht, insbesondere zur Beratung und Betreuung (vgl §§ 14, 15 SGB I), nachteilige Folgen für die Rechtsposition des Betroffenen herbeigeführt hat und diese Folgen durch ein rechtmäßiges Verwaltungshandeln wieder beseitigt werden können9.

Es kann offenbleiben, ob sich der Kläger schon deshalb nicht auf die Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs stützen kann, weil der Erstattungsanspruch nach § 26 Abs 2 SGB IV, der unabhängig von den Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs gegeben ist, die Beitragserstattung wegen eines behaupteten sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ausschließt10. Selbst wenn man eine Anwendbarkeit der Grundsätze über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch neben § 26 Abs 2 SGB IV bejahen wollte, würde es an dessen Voraussetzungen fehlen, weil nicht ein Verwaltungshandeln der Einzugsstelle unmittelbar zum Ausschluss der vom Kläger als nachteilig empfundenen fehlenden Erstattungsfähigkeit der für den streitigen Zeitraum geleisteten RV-Beiträge führte; denn eine Neuqualifizierung der Beiträge als zu Recht entrichtete Beiträge wurde erst durch eine gesetzliche Neuregelung und nicht durch ein (möglicherweise fehlerhaftes) Verwaltungshandeln vorgenommen. Auch aus dem Umstand allein, dass die Einzugsstelle zunächst – vom Kläger selbst seit 1993 beanstandet gelassen und im Betrieb seiner Ehefrau entsprechend über lange Jahre hinweg so praktiziert – zunächst von einem der Versicherungspflicht unterliegenden Beschäftigungsverhältnis ausging und erst das SG Aurich in seinem Urteil vom 28.05.2008 auf fehlende Versicherungspflicht erkannte, kann ebenfalls nichts zu Gunsten des Klägers hergeleitet werden. Dafür, dass er auf seinen Statusfeststellungsantrag hin durch eine zögerliche Bearbeitungsweise der Einzugsstelle davon abgehalten wurde, einen Erstattungsantrag schon vor dem 1.01.2008 zu stellen, hat das LSG nichts festgestellt und ist auch sonst nichts ersichtlich. Der Kläger stellte erst im Juli 2008 einen Antrag auf Erstattung der RV-Beiträge unter Verzicht auf Beanstandungsschutz und nicht bereits – zB vorsorglich und gestuft – zu einem früheren Zeitpunkt, etwa zeitgleich mit der Einleitung des Statusfeststellungsverfahrens im November 2006. Unbeschadet dessen erscheint fraglich, ob der – den anderen am Beitragseinzugsverfahren beteiligten und durch den Gesamtsozialversicherungsbeitrag begünstigten Versicherungsträgern gleichermaßen zur Beachtung der Regelungen des Versicherungs- und Beitragsrechts verpflichteten – Einzugsstelle (vgl § 28h Abs 2 SGB IV) schon deshalb eine Betreuungspflichtverletzung speziell gegenüber dem Kläger angelastet werden könnte, weil sie in ihrer Einschätzung über die Versicherungspflicht zunächst zu einem anderen Ergebnis gelangte als später das SG.

Ein anderes Ergebnis ließe sich auch nicht dadurch herbeiführen, dass weitere Verwaltungshandlungen und Verfahrensabschnitte aus der Zeit vor dem 1.01.2008 in den Blick genommen werden. Auch in der Zeit vor dem 1.01.2008 wäre(n) der/die bereits mit der Beitragsentrichtung entstandene(n) Beitragserstattungsanspruch/Beitragserstattungsansprüche des Klägers schon allein deshalb nicht ohne Weiteres realisierbar gewesen, weil auch nach altem Recht gemäß § 26 Abs 1 S 2 SGB IV nicht mehr beanstandungsfähige Beiträge als zu Recht entrichtete Pflichtbeiträge galten. Darüber hinaus ist ein konkreter Anlass für bestimmte Handlungen der Beklagten als Träger der gesetzlichen RV – zB für eine Beratung des Klägers gemäß § 14 SGB I im vorliegend interessierenden Zusammenhang – nicht ersichtlich. Hieran ändert auch die Einleitung und Durchführung eines Verwaltungsverfahrens zur Statusfeststellung bei der Einzugsstelle nichts: Aus einem solchen Verfahren kann nicht automatisch geschlossen werden, der Betroffene werde bei der von der Einzugsstelle getroffenen Feststellung, dass mangels Versicherungspflicht Beiträge zu Unrecht entrichtet worden seien – in jedem Fall automatisch ebenfalls die umfassende Erstattung aller in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung entrichteten Beiträge geltend machen. Vielmehr hat der Betroffene gerade in Bezug auf RV-Beiträge Gestaltungsmöglichkeiten (zB kein Verzicht auf Beanstandungsschutz mit der Rechtsfolge des § 26 Abs 1 S 2 SGB IV, Umwandlung in freiwillige Beiträge gemäß § 202 SGB VI), die im wohlverstandenen Eigeninteresse zuvor entsprechende Überlegungen erfordern.

Der sich damit ergebende Ausschluss der Erstattungsfähigkeit der Arbeitnehmeranteile der entrichteten RV-Beiträge verstößt nicht gegen Verfassungsrecht.

Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG begrenzen das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte die Befugnis des Gesetzgebers, Rechtsänderungen vorzunehmen, die an Sachverhalte der Vergangenheit anknüpfen. Dabei findet das Rückwirkungsverbot seinen Grund im Vertrauensschutz11. Jedoch geht der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz nicht so weit, den Staatsbürger vor jeglicher Enttäuschung seiner Erwartung in die Dauerhaftigkeit der Rechtslage zu schützen. Die schlichte Erwartung, das geltende Recht werde auch in der Zukunft unverändert fortbestehen, ist verfassungsrechtlich nicht geschützt12. Bei der verfassungsrechtlichen Prüfung ist zwischen einer echten Rückwirkung und einer unechten Rückwirkung bzw tatbestandlichen Rückanknüpfung zu differenzieren. Eine echte Rückwirkung liegt vor, wenn ein Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift oder wenn der Beginn seiner zeitlichen Anwendung auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm durch ihre Verkündung rechtlich existent, das heißt gültig geworden ist13. Eine unechte Rückwirkung oder tatbestandliche Rückanknüpfung liegt vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet oder wenn die Rechtsfolgen einer Norm zwar erst nach ihrer Verkündung eintreten, deren Tatbestand aber Sachverhalte erfasst, die bereits vor der Verkündung „ins Werk gesetzt“ worden sind14. Während eine echte Rückwirkung verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässig ist, gelten für eine unechte Rückwirkung bzw tatbestandliche Rückanknüpfung weniger strenge Beschränkungen15.

Hiernach ist vorliegend (nur) von einer unechten Rückwirkung bzw tatbestandlichen Rückanknüpfung auszugehen, weil § 26 Abs 1 S 3 SGB IV die mangels Versicherungspflicht zu Unrecht für den streitigen Zeitraum entrichteten Beiträge rückwirkend als zu Recht entrichtet qualifiziert.

§ 26 Abs 1 S 3 SGB IV verstößt nicht gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes, soweit sie Beiträge, die (ursprünglich zu Unrecht) für länger als vier Jahre zurückliegende Zeiträume entrichtet wurden, als zu Recht entrichtete Pflichtbeiträge qualifiziert.

Es kann offenbleiben, ob in dem damit einhergehenden Ausschluss der Geltendmachung von ursprünglich gegebenen Beitragserstattungsansprüchen überhaupt ein relevanter Eingriff in die verfassungsrechtliche Position des Betroffenen liegt. Es liegt bereits nicht die Situation des Eintritts von Verjährung verbunden mit einem Leistungsverweigerungsrecht oder die Auflösung des Versicherungsverhältnisses vor, wie dies etwa bei den Regelungen zur sog Heiratserstattung der Fall ist16 vor. Auch entspricht die durch § 26 Abs 1 S 3 SGB IV angeordnete Rechtsfolge gerade der der Beitragsentrichtung ursprünglich zugrunde liegenden Annahme der Beteiligten über die Rechtmäßigkeit der Beitragsentrichtung und damit über das Bestehen von Versicherungspflicht wegen Beschäftigung. Hiermit korrespondiert die gesetzgeberische Intention, wonach keine Schlechterstellung gegenüber der Situation entstehen soll, wenn der Betroffene tatsächlich pflichtversichert gewesen wäre, wovon er bis zur Feststellung des Nichtvorliegens der Versicherungspflicht bzw bis zur Einleitung der von der Einzugsstelle begehrten Statusfeststellung auch ausgegangen ist17).

Jedenfalls wäre ein Eingriff in Rechte des Klägers verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Die tatbestandliche Rückanknüpfung kann Grundrechte zum Schutz solcher Sachverhalte berühren, die mit der Verwirklichung des jeweiligen Tatbestandsmerkmals vor Verkündung der Norm „ins Werk gesetzt“ worden sind. An diesen Grundrechten sind die betreffenden Gesetze zu messen. Die rechtsstaatlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit wirken – beschränkt auf den Gesichtspunkt der Vergangenheitsanknüpfung – auf die grundrechtliche Bewertung in der Weise ein, wie dies allgemein bei der Auslegung und Anwendung von Grundrechten im Hinblick auf die Fragen des materiellen Rechts geschieht. Die Grenzen gesetzgeberischer Regelungsbefugnis ergeben sich dabei aus einer Abwägung zwischen dem Gewicht der berührten Vertrauensschutzbelange und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Gemeinwohl18. Soweit man als Bezugspunkt eines schützenswerten Vertrauens des Betroffenen die Wirksamkeit der Entrichtung von Beiträgen zur gesetzlichen RV ansieht, enttäuscht § 26 Abs 1 S 3 SGB IV dieses Vertrauen nicht, sondern schützt dieses, indem die Regelung die ursprünglich zu Unrecht entrichteten Beiträge als zu Recht entrichtete Pflichtbeiträge qualifiziert. Soweit man demgegenüber die Erwartung des Betroffenen, wegen instanzgerichtlich verneinter Versicherungspflicht müssten ihm ursprünglich zu Unrecht entrichtete Beiträge uneingeschränkt, dh uU auch nach Jahren und Jahrzehnten, erstattet werden, als Bezugspunkt seines Vertrauens ansieht, wäre dieses Vertrauen jedenfalls nicht schutzwürdig: Das geltende Recht sieht im Zusammenhang mit der Versicherungspflicht in der gesetzlichen RV aufgrund (abhängiger) Beschäftigung nämlich grundsätzlich keine Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten vor. Vielmehr tritt Versicherungspflicht kraft Gesetzes bei Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen ein (vgl § 1 S 1 Nr 1 SGB VI iVm § 7 Abs 1 S 1 SGB IV). Hat ein Versicherter und/oder sein Arbeitgeber aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse Zweifel am (Fort-)Bestehen von Versicherungspflicht aufgrund einer (abhängigen) Beschäftigung, besteht für ihn/sie jederzeit die Möglichkeit, zeitnah – entweder unmittelbar bei Aufnahme der Tätigkeit oder bei einem Wandel ihrer Merkmale – das (Fort-)Bestehen von Versicherungspflicht verbindlich klären zu lassen (vgl § 7a Abs 1 S 1, § 28h Abs 2 S 1 SGB IV). Eine in Klein- und/oder Familienbetrieben bestehende faktische Steuerungsmöglichkeit hinsichtlich der Klärung der Versicherungspflicht durch eine erst Jahre oder Jahrzehnte später erfolgende „Offenlegung“ der wahren tatsächlichen Verhältnisse im Zusammenhang mit der ausgeübten Tätigkeit entspricht weder der Systematik des Eintritts von Versicherungspflicht in der Sozialversicherung noch ist sie verfassungsrechtlich schützenswert19.

Bundessozialgericht, Urteil vom 5. März 2014 – B 12 R 1/12 R

  1. vgl zum Entstehen von Beitragserstattungsansprüchen allgemein BSG SozR 3-2400 § 28 Nr 1 S 4[]
  2. BGBl I 3024[]
  3. vgl in diesem Sinne auch LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.01.2011 – L 4 KR 4672/10; Bayerisches LSG Urteil vom 30.01.2013 – L 13 R 598/10; KomGRV, § 26 SGB IV RdNr 2, Stand Einzelkommentierung 2010; Kreikebohm, SGB IV, 2008, § 26 RdNr 9; Roßbach in Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 3. Aufl 2013, § 26 SGB IV RdNr 6; zur Frage, ob die Norm auch abgeschlossene Sachverhalte erfasst, in denen in der Vergangenheit zu Unrecht entrichtete Beiträge bereits erstattet wurden, vgl Waßer in jurisPK-SGB IV, § 26 RdNr 41.1, Stand Januar 2014[]
  4. vgl zum Ganzen ausführlich BSG Urteil vom 04.09.2013 – B 10 EG 11/12 R f mit umfangreichen Nachweisen, ferner zB Schlegel, VSSR 2004, 313, 314 ff[]
  5. so Gesetzentwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, BT-Drs. 16/6540 S 23 f zu Nr 14 (§ 26[]
  6. für die Geltung der früheren Rechtslage: KomGRV, § 26 SGB IV RdNr 2, Stand Einzelkommentierung 2010; Kreikebohm, SGB IV, aaO, § 26 RdNr 9[]
  7. so Gesetzentwurf, aaO, BT-Drs. 16/6540 S 23 f[]
  8. vgl zur Verjährung von Beitragserstattungsansprüchen BSG SozR 4-2400 § 27 Nr 1 RdNr 11 mwN; BSG Urteil vom 29.07.2003 – B 12 AL 3/03 R – AuB 2003, 341[]
  9. stRspr; zu den Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen vgl zuletzt zB BSG SozR 4-4300 § 28a Nr 3 RdNr 22 mwN; ferner BSG SozR 4-1200 § 14 Nr 15 RdNr 12[]
  10. so bereits BSG SozR 3-2400 § 26 Nr 10 S 49; BSG Urteil vom 29.11.2006 – B 12 KR 30/05 R mwN; Seewald in Kasseler Komm, § 26 SGB IV RdNr 27, Stand Einzelkommentierung Oktober 2008[]
  11. vgl aus jüngerer Zeit zB BVerfGE 132, 302, RdNr 41; BVerfGE 126, 369, 393, SozR 4-5050 § 22b Nr 9 RdNr 75 mwN[]
  12. vgl BVerfGE 128, 90, 106, SozR 4-1100 Art 14 Nr 23 RdNr 43 mwN[]
  13. BVerfGE 128, 90, 106, SozR 4-1100 Art 14 Nr 23 RdNr 45 mwN[]
  14. BVerfGE 128, 90, 107, SozR aaO RdNr 47 mwN[]
  15. vgl BVerfGE 109, 133, 181[]
  16. vgl hierzu BVerfGE 36, 237, SozR Nr 99 zu Art 3 GG; BVerfG SozR 4-2600 § 282 Nr 1; BSG SozR 3-2600 § 58 Nr 19 mwN[]
  17. vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung, aaO, BT-Drs. 16/6540 S 23 zu Nr 14 (§ 26[]
  18. vgl stellvertretend BVerfGE 109, 133, 182 mwN[]
  19. vgl zum Ganzen ausführlich: Kreikebohm, SGB IV, aaO, § 26 RdNr 9[]