Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst – Rentenansprüche der Hinterbliebenen bei Mehrfachehe

Die Regelungen im gesetzlichen Rentenversicherungsrecht zur Doppel- bzw. Mehrfachehe können in der Zusatzversorgung des Öffentlichen Dienstes (VBL) beim Zusammentreffen von (mehreren) Witwen- bzw. Witwerrenten zwar nicht aufgrund der Verweisungsnorm des § 38 Abs. 1 Satz 2 VBLS, jedoch unter dem Gesichtspunkt der ergänzenden Vertragsauslegung entsprechend angewendet werden. Gemäß Art. 25 Nr. 6 des deutsch-marokkanischen Sozialversicherungsabkommens vom 25.05.1981, das im Rahmen der ergänzenden Vertragsauslegung Anwendung findet, haben die beiden anspruchsberechtigten Witwen unabhängig von ihrer Ehedauer in gleicher – hälftiger – Höhe einen Anspruch auf Witwenrente.

Allerdings finden die Regelungen zur Doppel- bzw. Mehrfachehe im gesetzlichen Rentenversicherungsrecht allerdings nicht aufgrund der Verweisungsnorm des § 38 Abs. 1 S. 2 VBLS Anwendung. Dies ergibt eine sich am Wortlaut der Vorschrift orientierende Auslegung.

Die Satzungsbestimmungen der VBL finden als Allgemeine Versicherungsbedingungen auf die Gruppenversicherungsverträge Anwendung, die von den beteiligten Arbeitgebern als Versicherungsnehmer mit der VBL als Versicherer zugunsten der bezugsberechtigten Versicherten, der Arbeitnehmer, abgeschlossen werden1. Für die Auslegung der Satzungsbestimmungen kommt es auf das Verständnis des durchschnittlichen Versicherten und damit (auch) auf seine Interessen an2.

Nach diesem Maßstab ist zunächst vom Wortlaut der Vorschrift auszugehen. Gemäß § 38 Abs. 1 S. 2 VBLS richten sich Art (kleine/große Betriebsrente für Witwen/Witwer), Höhe (der nach Ablauf des Sterbevierteljahrs maßgebenden Rentenfaktor nach § 67 Nr. 5 und 6 und § 255 Abs. 1 SGB VI) und Dauer des Anspruchs – soweit nachstehend keine abweichenden Regelungen getroffen sind – nach den entsprechenden Bestimmungen der gesetzlichen Rentenversicherung. Aufgrund des Klammerzusatzes wird hinsichtlich der Höhe der Betriebsrente lediglich auf die in der Klammer genannten Vorschriften verwiesen. Ansonsten wäre der Klammerzusatz entbehrlich. Nur hinsichtlich der Dauer der Betriebsrente wird – soweit keine abweichenden Regelungen in der Satzung der VBL getroffen werden – insgesamt auf die Bestimmungen der gesetzlichen Rentenversicherung verwiesen. Da es hier nicht um die ausdrücklich in § 38 Abs. 1 S. 2 genannten Vorschriften des SGB VI geht, finden die Regelungen zur Doppel- bzw. Mehrfachehe im gesetzlichen Rentenversicherungsrecht nicht aufgrund der Verweisungsnorm des § 38 Abs. 1 S. 2 VBLS Anwendung

Eine entsprechende Anwendung der Regelungen zur Doppel- bzw. Mehrfachehe im gesetzlichen Rentenversicherungsrecht finden jedoch unter dem Gesichtspunkt der ergänzenden Vertragsauslegung Anwendung.

Die Satzung der VBL enthält hinsichtlich der Witwenrente keine ausdrückliche Regelung für den Fall der Doppel- bzw. Mehrfachehe. § 38 Abs. 3 VBLS regelt diesen Fall nicht. Diese Bestimmung regelt nur die Höhe der Betriebsrente an Hinterbliebene beim Zusammentreffen von Witwen- bzw. Witwerrente und Waisenrenten, nicht jedoch den Fall beim Zusammentreffen von (mehreren) Witwen- bzw. Witwerrenten.

Es besteht vielmehr eine planwidrige Regelungslücke, die im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung geschlossen werden muss.

Planwidrige Regelungslücken in der Satzung der VBL können im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung geschlossen werden3. Eine solche scheidet nur aus, wenn eine Regelungslücke in verschiedener Weise geschlossen werden kann und keine besonderen Anhaltspunkte dafür bestehen, für welche Alternative sich der Satzungsgeber entschieden hätte4.

Hier liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass der Satzungsgeber, wenn er eine ausdrückliche Regelung getroffen hätte, sich an derjenigen des gesetzlichen Rentenversicherungsrechts – hier i.V.m. dem deutsch-marokkanischen Sozialversicherungsabkommen – orientiert hätte. Gemäß § 38 Abs. 1 S. 1 VBLS hat die hinterbliebene Ehegattin bzw. der hinterbliebene Ehegatte Anspruch auf eine kleine oder große Betriebsrente für Witwen/Witwer. Die Satzung der VBL geht ausdrücklich davon aus, dass nur eine Witwe bzw. ein Witwer einen Anspruch auf eine Witwen- bzw. Witwerrente hat. Dies ist ein Indiz dafür, dass im Fall der Doppel- bzw. Mehrfachehe der Anspruch entsprechend zu teilen ist. Außerdem bestimmt § 38 Abs. 3 S. 1 VBLS, dass Witwen-/Witwerrente und Waisenrenten zusammen den Betrag der ihrer Berechnung zugrunde liegenden Betriebsrente nicht übersteigen dürfen. Danach ist davon auszugehen, dass die zu leistenden Witwen- bzw. Witwerrenten im Fall der Doppel- oder Mehrfachehe zusammen ebenfalls nicht den Betrag der ihrer Berechnung zugrunde liegenden Betriebsrente nicht übersteigen sollen. Das wäre aber der Fall, wenn jede Witwe bzw. jeder Witwer einen vollständigen Anspruch auf Witwen- bzw. Witwerrente hätte. Es widerspräche auch dem Versicherungsprinzip, im Fall der Doppel- oder Mehrfachehe Witwen- bzw. Witwerrenten zu bezahlen, die zusammen den Betrag, den der verstorbene Versicherte als Betriebsrente erhalten hätte, überstiegen.

Gemäß Art. 25 Nr. 6 des deutsch-marokkanischen Sozialversicherungsabkommens, das im Rahmen der ergänzenden Vertragsauslegung Anwendung findet, haben die beiden anspruchsberechtigten Witwen unabhängig von ihrer Ehedauer in gleicher – hälftiger – Höhe einen Anspruch auf Witwenrente5. Die VBL hat durch Vorlage einer entsprechenden Rentenmitteilung belegt, dass sie auch der zweiten Witwe des bei ihr ehemals Versicherten eine Betriebsrente für Witwen auszahlt.

Dieses Ergebnis begegnet auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Ein Verstoß gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG liegt nicht vor. Dabei kann dahingestellt bleiben, inwieweit Rentenanwartschaften der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes – anders als Rentenanwartschaften für Versicherte der gesetzlichen Rentenversicherung – als Eigentum im Sinne von Art. 14 Abs. 1 GG anzuerkennen sind6. Die Hinterbliebenenrente unterliegt nämlich nicht dem Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG. Nach der Konzeption des Gesetzgebers ist die Hinterbliebenenversorgung nicht dem Versicherten als „seine Rechtsposition“ zugeordnet. Sie steht auch nach Ablauf der Wartezeit und Eintritt des Versicherungsfalls unter der weiteren Voraussetzung, dass der Versicherte zu diesem Zeitpunkt in gültiger Ehe lebt. Er hat also lediglich die Aussicht auf eine Leistung, die mit Auflösung der Ehe oder Vorversterben des Partners entfällt7.

Eine gegen Art. 3 GG verstoßende Ungleichbehandlung ist nicht gegeben.

Für die Aufteilung der Witwenrente gibt es sachliche Gründe, die in der Besonderheit der Anerkennung der dem deutschen Recht fremden Mehrehe liegen. Die hälftige Aufteilung trägt der Situation Rechnung, dass die Anspruchsberechtigung zweier zugleich mit einem Versicherten verheirateter Ehefrauen nach deutschem Recht nicht entstehen kann; diese Besonderheit des marokkanischen Rechts soll daher auch im Hinterbliebenenrecht nach den dortigen Vorgaben gelöst werden8. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Mehrehe nicht dem Schutzbereich des Art. 6 GG unterfällt9. Es besteht daher keine verfassungsrechtliche Verpflichtung, im Fall der Mehrehe jeder Witwe einen vollen Anspruch auf Witwenrente zu gewähren10.

Landgericht Karlsruhe, Urteil vom 4. Juni 2012 – 6 S 3/11

  1. st. Rspr.; vgl. BGHZ 142, 103, 105 ff.; BGH, Urteil vom 14.06.2006 – IV ZR 55/05 – VersR 2006, 1248 Tz. 8; BVerfG VersR 2000, 835, 836[]
  2. vgl. BGH, Urteile vom 03.12 2008 – IV ZR 104/06 – VersR 2009, 201 Tz. 13; vom 14.02.2007 -IV ZR 267/04-VersR 2007, 676 Tz. 10; vom 14.06.2006 aaO; vom 14.05.2003 -IV ZR 76/02-VersR 2003, 895 unter II 1 a[]
  3. vgl. BVerfG, Beschluss vom 28.04.2011, 1 BvR 1409/10[]
  4. vgl. BGHZ 62, 83; LG Karlsruhe, Urteil vom 12.03.2010, 6 O 187/08[]
  5. vgl. BSG, Urteil vom 30.08.2000, B 5 RJ 4/00 R[]
  6. vgl. insoweit BGH VersR 2008, 1625[]
  7. vgl. BSG a.a.O. unter Hinweis auf BVerfG Beschluss vom 18.02.1998 – 1 BvR 1318 und 1484/86 – BVerfGE 97, 271 = SozR 3-2940 § 58 Nr 1 und BGH, Beschluss v. 13.04.2011 – XII ZB 122/09, in MDR 2011, 801[]
  8. vgl. BSG a.a.O.[]
  9. vgl. VGH BW, Beschluss vom 21.08.2007 11 S 995/07; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12.03.2004 – 10 A 11717/03 und insoweit zweifelnd: OVG Lüneburg, Urteil vom 29.11.2005 – 10 LB 84/05, in AUAS 2006, 74 ((beide zitiert nach juris[]
  10. vgl. auch zum Ausschluss einer Hinterbliebenenrente nach dem VAHRG auch bei einer im Ausland geschlossenen und als rechtswirksam zu behandelnden Mehrehe – BGH, Beschluss v. 13.04.2011 – XII ZB 122/09, in MDR 2011, 801[]