Die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf Vergütungen für mehrjährige Tätigkeiten erfordert zusätzlich die Außerordentlichkeit dieser Einkünfte. Hierfür ist im Falle der Kapitalisierung von Altersbezügen entscheidend, dass eine solche Zusammenballung der Einkünfte in dem betreffenden Lebens, Wirtschafts- und Regelungsbereich nicht dem typischen Ablauf entspricht. Ob darüber hinaus in dem konkreten Vertrag die Möglichkeit einer Kapitalabfindung bereits von Anfang an vorgesehen war oder nicht, hat demgegenüber nur indizielle Bedeutung.
Die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf Kapitalabfindungen von Kleinbetragsrenten aus Altersvorsorgeverträgen kann in der Zeit vor dem Inkrafttreten des § 22 Nr. 5 Satz 13 EStG nicht allein mit der Begründung verneint werden, eine solche Kapitalisierungsmöglichkeit sei in dem betreffenden Altersvorsorgevertrag von Anfang an vorgesehen gewesen.
Die Kapitalabfindung ist als Leistung aus einem Altersvorsorgevertrag gemäß § 22 Nr. 5 Satz 1 EStG in vollem Umfang einkommensteuerpflichtig. Erst mit Wirkung ab dem 1.01.2018 (vgl. Art. 17 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 9 Nr. 5 Buchst. b des Betriebsrentenstärkungsgesetzes vom 17.08.2017, BGBl I 2017, 3214) ist dem § 22 Nr. 5 EStG ein Satz 13 angefügt worden, wonach für Leistungen aus Altersvorsorgeverträgen nach § 93 Abs. 3 EStG die in § 34 Abs. 1 EStG geregelte Steuersatzermäßigung entsprechend anzuwenden ist. Im Streitjahr 2013 konnte diese Rechtsfolge der Besteuerung der Kapitalabfindung nicht zugrunde gelegt werden.
Die spätere ausdrückliche gesetzliche Regelung kann für die rechtliche Beurteilung früherer Zeiträume nicht von entscheidender Bedeutung sein. Zwar heißt es in der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Betriebsrentenstärkungsgesetz vom 22.02.2017 1, vor dem Inkrafttreten des § 22 Nr. 5 Satz 13 EStG sei die Gewährung des ermäßigten Steuersatzes nicht in Betracht gekommen, da eine Kapitalabfindung stets auf einer vertraglichen Vereinbarung zwischen dem Anbieter und dem Steuerpflichtigen beruhe. Auch wenn einer solchen Äußerung eines ‑späteren- Gesetzgebers mitunter eine gewisse Indizwirkung für die in früheren Jahren geltende Rechtslage beigemessen werden mag, ist durch die Auslegung der im Streitjahr 2013 geltenden gesetzlichen Regelungen zu ermitteln, ob § 34 Abs. 1 EStG seinerzeit auf Kapitalauszahlungen nach § 93 Abs. 3 EStG anwendbar war oder nicht 2.
Nach § 34 Abs. 2 Nr. 2 EStG kommen als außerordentliche Einkünfte u.a. Entschädigungen i.S. des § 24 Nr. 1 EStG in Betracht. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift hat das Finanzgericht mit zutreffenden Erwägungen verneint. Die Kapitalisierung eines Anspruchs auf laufende Zahlungen stellt grundsätzlich keine Entschädigung dar 3. Dies gilt erst Recht dann, wenn die Kapitalisierungsmöglichkeit ‑wie hier- von vornherein vertraglich vereinbart war.
Soweit die Kläger im Revisionsverfahren behaupten, die Möglichkeit einer Kapitalabfindung sei nicht Teil der Vereinbarungen mit dem Anbieter gewesen, weil die entsprechenden Passagen des Altersvorsorgevertrags „rein informatorisch” gewesen seien, können sie damit nicht durchdringen. Die Vertragsauslegung gehört zu den tatsächlichen Feststellungen i.S. des § 118 Abs. 2 FGO, an die das Revisionsgericht grundsätzlich gebunden ist 4.
Der Bundesfinanzhof hat bereits entschieden, dass die einmalige Kapitalabfindung eines Anspruchs auf laufende Altersbezüge grundsätzlich als Vergütung für mehrjährige Tätigkeiten anzusehen ist 5. § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG ist auf alle Einkunftsarten anwendbar. Die „Tätigkeit” besteht bei Altersbezügen in der früheren Leistung von Beiträgen. Die Voraussetzung der Mehrjährigkeit (§ 34 Abs. 2 Nr. 4 Halbsatz 2 EStG) ist vorliegend ebenfalls erfüllt, da der Kläger die Beiträge über mindestens zwei Veranlagungszeiträume und mehr als zwölf Monate geleistet hat.
Die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes erfordert jedoch sowohl nach dem Wortlaut des § 34 Abs. 1 EStG als auch nach dem Einleitungssatz des § 34 Abs. 2 EStG zusätzlich die „Außerordentlichkeit” dieser Einkünfte. Dies dient der Einschränkung des eher weit geratenen Wortlauts des § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG 6.
Nach Auffassung der Finanzverwaltung setzt die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes in den Fällen des § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG bei Einkünften, die nicht solche aus nichtselbständiger Arbeit sind, zusätzlich voraus, dass eine Zusammenballung von Einkünften eintritt, die nicht dem vertragsgemäßen oder dem typischen Ablauf entspricht 7. Soweit sich die Kommentarliteratur mit dieser Frage befasst, wird die Verwaltungsauffassung teils zustimmend 8, teils lediglich referierend 9 zitiert.
Unter Heranziehung dieses Obersatzes hat der Bundesfinanzhof für den Bereich der Altersbezüge bereits entschieden, dass Kapitalauszahlungen der Basisversorgung, die ein inländisches Versorgungswerk übergangsweise gewährt und die auf Beiträgen beruhen, die in der Zeit vor dem Inkrafttreten des Alterseinkünftegesetzes (AltEinkG) am 1.01.2005 geleistet worden waren, schon dann nach § 34 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 4 EStG begünstigt sind, wenn die Geltendmachung einer solchen Abfindung zwar vertrags- bzw. satzungsgemäß, im Hinblick auf die Charakteristik der Basisversorgung 10 aber gleichwohl atypisch ist 11. Zum selben Ergebnis ist der Bundesfinanzhof für eine satzungsgemäße Kapitalauszahlung aus einer ausländischen Pensionskasse der Basisversorgung gekommen 12. Dem hat sich auch der I. Bundesfinanzhof des BFH angeschlossen 13. Demgegenüber sind die Voraussetzungen des § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG nicht erfüllt, wenn ein inländischer Pensionsfonds der betrieblichen Altersversorgung 14 ein unbeschränktes Kapitalwahlrecht bereits im ursprünglichen Vertrag vorsieht und zusätzlich vorgetragen wird, dieses Kapitalwahlrecht sei für die Attraktivität der betrieblichen Altersversorgung unbedingt erforderlich 15.
Damit hat der Bundesfinanzhof in den genannten Entscheidungen letztlich das Kriterium der Atypik in den Vordergrund seiner Überlegungen gestellt. Ob darüber hinaus in dem konkreten Vertrag die Möglichkeit einer Kapitalabfindung bereits von Anfang an vorgesehen war oder nicht, stellt sich danach als ein Indiz dar, das allenfalls gewisse Rückschlüsse darauf zulassen mag, ob eine Kapitalabfindung im betreffenden Lebens, Wirtschafts- und Regelungsbereich typisch oder atypisch ist, aber nicht von allein entscheidender Bedeutung ist.
Diese Auslegung des Gesetzes führt zu einem Gleichklang mit der ‑bereits langjährigen- Rechtsprechung zur Anwendung des § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG bei Einkünften aus selbständiger Tätigkeit und vermeidet damit sachlich nicht gebotene Differenzierungen zwischen den Einkunftsarten. Für Einkünfte aus § 18 EStG wird die Begünstigung nur dann gewährt, wenn der Steuerpflichtige sich während mehrerer Jahre ausschließlich der einen Sache gewidmet und die Vergütung dafür in einem einzigen Veranlagungszeitraum erhalten hat oder wenn eine sich über mehrere Jahre erstreckende Sondertätigkeit, die von der übrigen Tätigkeit des Steuerpflichtigen ausreichend abgrenzbar ist und nicht zum regelmäßigen Betrieb gehört, in einem einzigen Veranlagungszeitraum entlohnt wird 16. Es kommt daher nur auf die Atypik des Vorgangs für den betreffenden Lebens- und Wirtschaftsbereich an 17; ob der zusammengeballte Zufluss der Vergütung hingegen vertragsgemäß war, ist nicht von entscheidender Bedeutung.
Ebenso hat der Bundesfinanzhof bei der Anwendung des § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG auf die Einkünfte aus Kapitalvermögen nur darauf abgestellt, ob die Einkünfte „für die jeweilige Einkunftsart ungewöhnlich” ‑also atypisch- sind 18.
Nach diesen Maßstäben steht allein der Umstand, dass die Möglichkeit der Kapitalisierung einer Kleinbetragsrente von Anfang an im Altersvorsorgevertrag vorgesehen war, der Anwendung des § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG nicht zwingend entgegen. Vielmehr ist entscheidend, ob die Kapitalisierung laufender Rentenansprüche im Bereich der Altersvorsorgeverträge (§§ 82 ff. EStG) als atypisch anzusehen ist.
Für die vorzunehmende wertende Beurteilung ist nicht allein auf die Teilmenge der Kleinbetragsrenten abzustellen, sondern auf sämtliche Altersvorsorgeverträge, deren Auszahlungsphase während der Geltung der im Streitjahr maßgebenden Rechtslage (d.h. vom Inkrafttreten des AltEinkG am 1.01.2005 bis zum Inkrafttreten des § 22 Nr. 5 Satz 13 EStG am 1.01.2018) begonnen hat. Dies folgt bereits aus der bisherigen Bundesfinanzhofsrechtsprechung, wo für die Beurteilung der Typik oder Atypik einer Kapitalisierung nicht etwa lediglich die Teilmenge der Mitglieder von Versorgungswerken mit Altbeiträgen 19 oder die Teilmenge der Mitglieder schweizerischer Pensionskassen 20, sondern die Gesamtmenge aller Rechtsbeziehungen der Basisversorgung herangezogen worden ist.
Der Gesetzgeber hat zwischenzeitlich mehrere Möglichkeiten zur Kapitalisierung der laufenden Auszahlungsansprüche aus Altersvorsorgeverträgen eingeführt und dadurch den Zweck dieser Art der Altersvorsorge ‑die Gewährleistung einer lebenslangen laufenden Versorgung- jedenfalls in Teilbereichen in Frage gestellt. So ist nach § 93 Abs. 3 EStG die Abfindung einer Kleinbetragsrente zulässig. Darüber hinaus lässt § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Buchst. a des Gesetzes über die Zertifizierung von Altersvorsorge- und Basisrentenverträgen ‑Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz- (AltZertG) zu, dass bis zu 30 % des zu Beginn der Auszahlungsphase zur Verfügung stehenden Kapitals außerhalb der monatlichen Leistungen ausgezahlt werden kann; auch eine solche Teilkapitalisierung gilt gemäß § 93 Abs. 1 Satz 1 EStG nicht als schädliche Verwendung. Den gesetzlichen Regelungen zur Basisversorgung, insbesondere zur gesetzlichen Rentenversicherung, sind derartige weitreichende Kapitalisierungsmöglichkeiten hingegen weiterhin fremd. Dies spricht dafür, dass der Gesetzgeber selbst die Kapitalisierungsmöglichkeit im Bereich der zweiten Schicht nicht als atypisch ansieht.
Der Bundesfinanzhof kann mangels statistischen Materials aber weder beurteilen, ob es sich bei den Kleinbetragsrenten um atypische Einzelfälle handelt, noch liegen ihm Informationen dazu vor, ob es bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 93 Abs. 3 EStG nur in atypischen Einzelfällen tatsächlich zur Wahl der Kapitalabfindung kommt. Dies wird das Finanzgericht ‑erforderlichenfalls durch Anfragen bei Organisationen, die über entsprechendes statistisches Material verfügen dürften, wie z.B. die zentrale Stelle (§ 81 EStG), Verbraucherschutzorganisationen sowie Verbände der Anbieter- festzustellen haben.
Zu Unrecht hat sich das Finanzgericht Berlin-Brandenburg 21 für seine Würdigung, die Abfindung einer Kleinbetragsrente stelle in der Praxis den Normalfall dar, sei also als typisch anzusehen, auf die Kommentierung von Baroch Castellvi 22, nicht aber, die Existenz entsprechender vertraglicher Regelungen oder das Gebrauchmachen von derartigen Regelungen stelle den Normalfall dar. Schon gar nicht findet sich dort entsprechendes statistisches Material.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 11. Juni 2019 – X R 7/18
- BT-Drs. 18/11286, 63[↩]
- vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen unter b und c[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 21.09.1993 – III R 53/89, BFHE 172, 349, unter II. 1.; und vom 14.01.2004 – X R 37/02, BFHE 205, 96, BStBl II 2004, 493, unter II. 1.c[↩]
- BFH, Urteil vom 03.08.2005 – I R 94/03, BFHE 210, 398, BStBl II 2006, 20, unter II. 4.[↩]
- BFH, Urteil vom 20.09.2016 – X R 23/15, BFHE 255, 209, BStBl II 2017, 347, Rz 20 f.[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFHE 255, 209, BStBl II 2017, 347, Rz 23[↩]
- R 34.4 Abs. 1 Satz 3 der Einkommensteuer-Richtlinien 2012[↩]
- Graf in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 34 Rz 112; Bleschick in Kanzler/Kraft/Bäuml/Marx/Hechtner, 4. Aufl., § 34 EStG Rz 95; Horn in Herrmann/Heuer/Raupach, § 34 EStG Rz 67[↩]
- Mellinghoff in Kirchhof, EStG, 18. Aufl., § 34 Rz 28[↩]
- erste Schicht des sog. Drei-Schichten-Modells[↩]
- BFH, Urteile vom 23.10.2013 – X R 3/12, BFHE 243, 287, BStBl II 2014, 58, Rz 74 ff.; und vom 23.10.2013 – X R 21/12, BFH/NV 2014, 330, Rz 40[↩]
- Urteil vom 23.10.2013 – X R 33/10, BFHE 243, 332, BStBl II 2014, 103, Rz 65 ff.[↩]
- Urteil vom 16.09.2015 – I R 83/11, BFHE 253, 527, BStBl II 2016, 681, Rz 19[↩]
- Teil der zweiten Schicht des Drei-Schichten-Modells[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 255, 209, BStBl II 2017, 347, Rz 22 ff.[↩]
- BFH, Urteile vom 22.05.1975 – IV R 33/72, BFHE 116, 136, BStBl II 1975, 765, unter 1. vor a; und vom 30.01.2013 – III R 84/11, BFHE 240, 156, BStBl II 2018, 696, m.w.N.[↩]
- so auch Blümich/Lindberg, § 34 EStG Rz 49[↩]
- Urteil vom 12.11.2013 – VIII R 36/10, BFHE 243, 506, BStBl II 2014, 168, Rz 40[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 243, 287, BStBl II 2014, 58[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 243, 332, BStBl II 2014, 103[↩]
- FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24.01.2018 – 7 K 7032/16, EFG 2018, 558[↩]
- Baroch Castellvi, AltZertG, 1. Aufl.2012, § 1 Rz 19 berufen. In dieser Fundstelle heißt es lediglich beiläufig, die Verwaltungskosten von Kleinbetragsrenten seien unwirtschaftlich ((ebenso die Begründung zum Fraktionsentwurf des AltEinkG vom 09.12 2003, BT-Drs. 15/2150, 49[↩]